Antidepressivum oder Würfelzucker?

Artikel #858 vom 03.04.2017


Was würden Sie als Patient bevorzugen? Was bevorzugt Ihr Psychotherapeut? Sie beide liegen daneben. Leider. Der Würfelzucker wäre die bessere Alternative gewesen.

Ich habe lange auf solch eine klare Aussage gewartet. Aber der Reihe nach:

  • 2008 hat die FDA (oberste Instanz in den USA) alle placebokontrollierten Studien zu den 6 meist verkauften Wirkstoffen (Citalopram, Venlafaxin, Sertralin, Fluoxetin, Paroxetin und Nefazodon) unter die Lupe genommen. Berichtet Prof. Kirsch von der Harvard University. Heraus kam auf der sogenannten Hamilton Depressionsskala ein Unterschied von 1,8 Punkten zu Gunsten der Tablette. Im Vergleich mit dem Placebo.
  • Zur Erinnerung: Diese Skala reicht von 0 bis 53. Der Unterschied waren 1,8 Punkte. Schon verstanden?
  • Ausdrücklich: „Und das waren Studien, die dazu angelegt waren, das Beste für die geprüften Substanzen herauszuholen“. Wie das Ergebnis bei unselektierten Patienten, also bei uns ausfallen würde, wenn schon ausgewählte und aufwandsentschädigte (!!!) Studienteilnehmer so abschnitten, „kann man sich kaum vorstellen.“

Doch. Kann ich mir vorstellen. Da gibt es nichts zu deuteln.

  • Dieses FDA-Ergebnis 2008 wurde in folgenden Arbeiten mehrfach bestätigt. Die neueste Analyse stützt sich auf 92 Studien mit über 23.000 Patienten. Und auch hier betrug die Differenz nur 1,8 Punkte. Wohlverstanden: auf einer Skala von 0 bis 53.
  • Das britische National Institute for Clinical Evidence (NICE) fordert mindestens drei Punkte, um den Unterschied als klinisch relevant einzustufen.

Mindestens drei Punkte? Wie lächerlich kann man sich noch machen? Dass das wirklich lächerlich ist, zeigt der Vergleich mit der Schmerztherapie.

  • Schmerztherapeuten fordern bei der Clinical Global Impression (CGI) mindestens eine „deutliche Besserung“. Übertragen auf die oben erwähnte Hamilton Depressionsskala entspreche das 14 Punkten.
  • Die drei NICE Punkte, gefordert für Anti-Depressiva, ergäbe bei Schmerztherapeuten „keine Veränderung“.

Fazit: Ich zitiere: „Patienten, die Antidepressiva bekommen, schlucken also offenbar ein besseres Plazebo“. Das wäre nicht weiter schlimm, wenn diese Präparate nicht Nebenwirkungen hätten. Erinnern Sie sich? 30 Kilo in 6 Monaten? Plötzliche Angstattacken? Sagt Ihnen der Name Lubitz, der Co-Pilot noch etwas? Der diese Mittel geschluckt hatte und 149 Menschen mit in den Tod riss?

  • Kommt hinzu, dass Folgeuntersuchungen zu ausdrücklich placebokontrollierten Studien (also das Beste, was wir haben) nach dem Absetzen der Tabletten doppelt so häufig Rezidive aufwiesen. Verglichen mit Placebo.
  • Und dann, ausdrücklich: „Körperliches Training hat sich als deutlich effektiver erwiesen“.

Damit sind wir beim Punkt. Sport, tägliches Joggen, Radfahren, was auch immer ist, ich zitiere: „kurzfristig mindestens so wirksam wie ein Antidepressivum und wesentlich erfolgreicher in der Rückfallprävention“.

Weshalb ich mich so sichtlich aufrege? Weil mich täglich minimal drei, auch mal acht Patienten mit Depression aufsuchen. Die meisten schlucken Tabletten. Das ist nicht der Punkt. Der kommt erst. Und ich soll jetzt Patienten überreden, ihre Tabletten abzusetzen, obwohl sie doch ihrem Psychiater, ihrem Psychotherapeuten vertraut haben? Ich soll also Kollegen kritisieren? Das mag ich nicht, und das mache ich nicht vor Patienten.

Werden wir also deutlich: Könnten die Kollegen nicht selbst nachlesen? Weshalb muss ich hier zitieren?

Quelle: Zusammenfassung in Medical Tribune, 17.02.2017, Seite 5