Leitlinien hinterfragt!

Moderne Medizin basiert auf Leitlinien. Auf der sogenannten Evidenzbasierten Medizin. Die bezieht ihr Wissen, ihre normative Kraft aus zahllosen Studien mit tausenden von Patienten.

Ein glücklicher Gedanke. Weg vom Mittelalter, hin zur Naturwissenschaft. Medizin, die auf Studienergebnissen basiert und nicht auf, sagen wir, der Windrichtung.

Diese Leitlinien werden

  • von uns Ärzten ausdrücklich begrüßt, weil sie die ärztliche Kunst auf ein empirisch abgesichertes Fundament stellt.

  • Wird von der Gesundheitspolitik begrüßt, weil es endlich eine Richtschnur gibt, an der entlang entschieden werden kann, was bezahlt werden soll und was nicht.

  • Wird von der Juristerei ausdrücklich begrüßt, weil sie ein zuverlässiges juristisches Fundament bieten.

Von Patienten war bisher nicht die Rede. Von Patienten, um die sich die ganze Medizin ja drehen sollte. Beispiel gefällig?

Bluthochdruck: Viele Menschen mit hohem Druck in den Adern fühlen sich zwar wohl, werden aber auf die Dauer krank. Deshalb wird dank Leitlinien der Blutdruck auf ein "statistisch unbedenkliches Niveau" abgesenkt. Nur: Viele Patienten fühlen sich jetzt schlechter als vorher.

Frage: Wer hat also Recht: Die Statistik des Arztes oder der fühlende Patient?

Spricht sich rum. Auch bei den Ärzten. Auch beim ersten deutschen Kongress über eine "wertebasierte Gesundheitsversorgung", zu welchem die Berliner Ärztekammer soeben eingeladen hatte. Da fallen so Sätze wie:

  • Die Leitlinien bilden die Vorstellungen und Wünsche des einzelnen Menschen nicht ab.

  • Im Kern sind die Leitlinien autoritär und passen nicht zur Idee vom Patienten als mündigem Gegenüber des Arztes.

Deshalb (für mich der Höhepunkt) wurde auf diesem Kongress tatsächlich gefragt:

"Wie sähe es aus, wenn wir im Gesundheitswesen den Fokus tatsächlich auf den Wert und den Nutzen für den Patienten setzten?"

Schon an dieser Frage "wird deutlich, wie weit sich Arzt, Patient und Gesundheitssystem bereits entfremdet haben" (Zitat). Und wissen Sie, woher das kommt?

Kann ich Ihnen sagen. Natürlich kann ich das. Das liegt doch nicht am bösen Willen irgendeiner Seite. Sondern das liegt, wie so häufig, tief verborgen am System.

An den wissenschaftlichen Arbeiten, auf welchen ja die Leitlinien beruhen. Schon einmal etwas von Schrottstudien gehört? In aller Kürze und noch einmal zusammengefasst:

  • Nur als Beispiel: Prozac. (News 1, News 2 und News 3, anbei).

Wo gezeigt wird, wie die Pharmaindustrie lügt. Wo uns der zuständige Manager Dr. Virapen von der Firma Eli Lilly erzählt, wie die Zulassung von Prozac eben nicht, wie suggeriert, auf 11.000 Individuen, sondern auf nur 286 Menschen beruhte. Da wurde von Anfang bis Ende gelogen. Sagt der zuständige Manager.

  • Fälschungen. Wissenschaftliche Studien werden im großen Maße gefälscht. News anbei, wo wir lesen: 56% der Medikamentenstudien sind einfach gefälscht. Falsch. Sind Betrug.

Sehen Sie: Darauf basieren unsere Leitlinien. Und wir wundern uns, wenn der Patient der, "richtig" behandelt wird, sich ebenfalls verwundert die Äuglein reibt.

Weshalb erzählt Ihnen das nicht Ihr behandelnder Oberarzt in der Klinik? Weshalb erzählt Ihnen Ihr Facharzt nichts davon? Dass er in Wahrheit im Dunkeln tappt?

Nur als Beispiel: Prozac

Prozac ist die Nummer eins unter den Psychopharmaka in den USA. Ein Antidepressivum. Es gibt ganze Bücher über die Wunderwirkung der Pille. Von der Firma Eli Lilly. Der für die Zulassung dieser Wunderpille zuständige Manager Dr. Virapen hat uns einmal erzählt, wie so eine Zulassung abläuft.

Die gipfelte in einem Brief an die Ärzte in den USA mit dem Satz

"Über 11 000 Individuen nahmen an klinischen Versuchen für Prozac teil, von denen über 6 000 mit Prozac behandelt wurden."

Aus dieser geschickt formulierten Mitteilung hielt sich vor allem die Zahl 11 000, die an der Studie teilnahmen. Geschluckt hatten das Mittel freilich nur 6 000. Moment: Wenn es so wäre!

Genauer betrachtet waren es nicht 6 000, sondern nur 5 600 nach genauer Auswertung. Allerdings hatten von diesen 5 600 gar nicht alle an klinischen Versuchen unter wissenschaftlichen Bedingungen teilgenommen. Es waren in Wahrheit wohl nur 4 000.

Wobei nur Doppelblindversuche bei Zulassungsstudien zählen. Und an Doppelblindversuchen hatten tatsächlich nur gezählte 1 730 teilgenommen. Tja. Allerdings hatte die FDA-Behörde die meisten dieser Versuchsreihen nicht berücksichtigen können. Wegen technischer Pannen, wissenschaftlicher Unsauberkeiten und dann aber auch… man höre und staune:

"Wurden in den Doppelblindversuchen drüber hinaus all die Patienten von den Versuchen ausgeschlossen, die zu gut auf das Placebo reagierten. In so einem Fall wurde die Testreihe ohne diese Patienten neu begonnen. Denn sonst wäre man am Ende ja mit lauter Patienten dagestanden, die man mit Zuckerkügelchen geheilt hätte, anstatt mit dem patentierten Wirkstoff".

Kurz und gut: Zählt man alles zusammen, blieben magere 286 Patienten übrig, die wirklich diese Versuchsreihen zu Ende geführt hatten. Also nicht 11 000, auch nicht 6 000, wie in dem Ärzte-Rundbrief behauptet, sondern 286.

Dr. Virapen schreibt wörtlich: "Auf der Basis der Erfahrung von 286 Menschen wurde die Zulassung erteilt."

Ich weiß nicht, Herr Doktor, ich weiß nicht….meinte Loriot so schön. Und glauben Sie bloß nicht, dass dies ein Einzelfall ist. Ich bin mir sicher, dass das die Regel ist. Ausweg? Kinderleicht: Meine Rehe schlucken keine Psychopharmaka. Wissen Sie weshalb? Weil sie keine brauchen.

Die machen irgendetwas anders. Irgendetwas.

PS: Prozac ist ein SSRI. Das gibt's auch als Citalopram, Escitalopram, Fluoxetin, Paroxetin, Setralin. Gucken Sie mal auf Ihre Schachtel.


Leitlinien

 

Und zwar evidenzbasierte, sind langsam zur Basis der deutschen Medizin geworden. Der Universitätsmedizin. Wünschenswert. Jeder Arzt bekommt so genaue Richtlinien an die Hand, Gebrauchsanleitungen, wie er seine Therapie zu gestalten hat.

Bringt auch Rechtssicherheit. Bei möglichen juristischen Auseinandersetzungen. Die Leitlinien gelten. 

Ein paar habe ich ja schon genannt. Auch Sie haben sich gefragt: Weshalb sind diese evidenzbasierten Leitlinien eigentlich so grauenvoll falsch? So eindeutig unrichtig? Weshalb bekommt der Mensch mit hohem Blutdruck nicht als erstes gesagt: Nimm ab, lauf, sondern...nimm diese und jene Tablette?

Weshalb soll ein Diabetiker massiv Zucker in Form von Kohlenhydraten essen? Wenn er doch zuckerkrank ist? Was sind das für seltsame Leitlinien?

Nun, ganz einfach: Die basieren auf Studien. Das war's auch schon. Seit wir den hübschen Ausdruck Schrottstudien kennen, ahnen wir...das Unheil.

Beispiele gefällig?

Nur im Juni 2014 zieht das Fachmagazin "Nature" eine epochale Studie über Stammzellen wieder zurück. War gefälscht. Nur im Juni hat das "Journal of Vibration and Control" gleich 60 seiner Beiträge zurückgezogen. Erfunden. Nur im Juni 2014 bestraft die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) einen Wissenschaftler, der Fälschung zugegeben hatte.

Es kommt noch schlimmer: Sogenannte klinische Studien sagen uns Ärzten da draußen auf dem Lande, wie wir neue Therapie anzuwenden haben. Und sogenannte Medikamentenstudien untersuchen die Wirkung neuer Medikamente. Also los:

  • Da berichtet A. Nowbar vom Imperial College in London Anfang 2014 über die Stammzelltherapie. Das allerneueste: Frische Zellen für kranke Organe. 49 klinische Großversuche waren bisher an Patienten durchgeführt worden, 133 mal war darüber berichtet worden. Jetzt kommt's: Nur 5 Studien von den 49 erwiesen sich als fehlerfrei, und zwar ausgerechnet jene, die "keinen therapeutischen Effekt" beschrieben hatten.

  • Oder nehmen wir Medikamentenstudien. Die werden in der Regel von der Pharmaindustrie finanziert. Und brachten prompt zu 89% positive Befunde. 

Öffentlich geförderte Medikamentenstudien konnten nur zu einem Drittel ein positives Ergebnis berichten. Differenz 56%. 

Ich bin mir ganz sicher: 56% gefälscht. Einfach die schlechten Ergebnisse unter den Tisch fallen lassen. Man kennt das Prinzip.

Kennen Sie von Tamiflu. Ein Grippemedikament der Firma Roche. Aus meinen Händen haben Sie das nie bekommen. Regierungen in aller Welt haben für mehr als 1 Milliarde Euro Tamiflu von Roche gekauft. Das würde den Grippeverlauf viel deutlicher abschwächen als Aspirin. Nun, inzwischen wissen wir: glatt gelogen. Die Industrie hatte die negativen Ergebnisse vieler Studien einfach verschwiegen. Tamiflu ist also ein Schwindel. Übrigens: irgendwelche Folgen für die Firma Roche? Ich habe nichts gehört.

Dabei geht das alles viel besser und leichter. Ich meine, das Produzieren von Schrottstudien. Politiker sind hier den Pharmafirmen weit überlegen. Beispiel Fracking. Grundsätzlicher Gegner das Deutsche Umwelt-Bundesamt. Die Leiterin, Frau Maria Krautzberger bei der Veröffentlichung einer großen Studie wörtlich:

"Fracking ist und bleibt eine Risikotechnologie"

Fragt man den Autor der Studie, Uwe Dannwolf, antwortet er: 

"In meiner Arbeit stehen solche Worte nicht. Ich würde mein Gutachten nicht so auslegen".

Gekonnt. Kompliment an Frau Krautzberger. Beamtin.

Fazit: So also entstehen evidenzbasierte Leitlinien. Auf 49 klinischen Großversuchen (Stammzellen), von denen 44 fehlerhaft waren. Tja. Sie verstehen immer besser, weshalb ich mich zunehmend nur noch auf mich selbst verlasse. Selbst experimentiere. Sie frage. Ihre Briefe abdrucke. Scheint mit ein sehr viel ehrlicheres, anständigeres Verfahren zu sein, um sich auf dieser Welt zurecht zu finden.

Quelle: Die Zeit 24.07.2014, S. 31

Focus 37/2014, S. 74