Prof. Nick Gerlich, University of Texas, ein drahtiger Athlet mit Goldrandbrille, hat ein klitzekleines familiäres Problem: Seine Ehefrau hat das Race-Across-America-Rennen (RAAM) bestanden. Also einmal mit dem Rad quer durch Amerika. Am Stück. Hat sie geschafft. Bloß: Er noch nicht. Hat er nachgedacht. Die professorale Lösung dieses Problems: Er organisierte mit seinen Studenten das 1000 km-Qualifikationsrennen gleich selbst in seiner Heimat. Die Tour of Northern Texas. Und setzte sich auch selbst aufs Rad – mit weiteren 12 RAAM-Aspiranten, einer davon aus good old Germany.
Der sich da recht verlassen vorkam: Um sich herum diese mächtigen Oberschenkel, diese drahtigen Waden, diese gewaltigen Brustkästen... Na, das wird was.
Die längliche Radtour im Nordwesten von Dallas wellte sich rund um die kleine Stadt Canyon. Die endlose Weite von Texas garantierte erfrischenden Wind von 25 – 40 km/h, der wolkenlose Himmel eiskalte Nächte.
Am Freitag früh 7 Uhr ging’s los. Und schon gleich richtig: Die ersten 311 km voll gegen den Wind von laut Nachrichten 40 km/h. Also von Beginn an ein Intensitätsrennen, vergleichbar mit dem Ironman. Nach 100 Kilometern die ersten Aufgabegedanken. Das Brennen in den Beinen wurde übermächtig. Aber wozu war man da bis Texas geflogen? Also weiter...
Schon hier auf den ersten 300 km schieden drei von vier außer Konkurrenz teilnehmenden Profis aus. Denn nach den Regeln qualifiziert sich, wer maximal 15 Zeitprozent hinter dem Sieger ankommt. Man musste also von Beginn an vorne mithalten.
Die Landschaft fast bretteleben, die Strecke rolling hills entlang am Lake Meredith, einem kilometerlangen Stausee mit azurblauem Wasser im steten Wettstreit mit Prof. Gerlich. Der immer wieder wegen Rückenproblemen absteigen musste, massiert wurde, stöhnte, ächzte und dann wieder von hinten aufholte. Umsonst,denn: An einer langen Steigung wurde ihm das Kreuz endgültig zum Verhängnis. Nach erneuten Einreibungen und Massagen blieb ihm nichts als die Aufgabe. Und das vor den Augen seiner Frau.
Das Ankämpfen gegen den Wind erschöpft den Willen. Stunde um Stunde. Licht am Ende des Tunnels ist das Wissen, dass die Route ja nach 311 km lee-wärts abbiegt, also nach Süden, der Wind dann von schräg links hinten kommen müsste. Müsste.
Der Wind hat einfach auch die Richtung gewechselt. Wenn man es nicht selber erlebt hätte... die Texaner kennen das und lachten nur in ihrem Begleitfahrzeug. Ein solches hat ja jeder Radler bei sich und wurde von dort mit Verpflegung und Trinkwasser versorgt. Auf die Zähne gebissen und weiter. Langsam beginnt sich der Nacken, die Ellenbogen, das Kreuz, der Allerwerteste und die Fußsohlen deutlich schimpfend zu melden. Wie lange denn das noch so weiterginge? Konnte man sie bisher noch mit tröstenden Gedanken wie "ein Ironman dauert ja auch 12 Stunden" beschwichtigen, so wachen sie jetzt gemeinsam auf: Das dauert doch wohl nicht länger?
Nur mit speziellen meditativen Techniken, die sich wohl jeder der Athleten angeeignet hat, lässt sich ein solches Langstreckenrennen, das ja über 40, 50, bis zu 60 Stunden läuft, überhaupt bewältigen. Abgestiegen wird allenfalls, um eine Jacke überzuziehen. Aber auch das versucht man im Fahren.
Immer wieder schön, die Szene, die bei keinem Radrennen fehlen darf: Mühsam strampelt man die langgezogene Steigung hinauf und plötzlich...mit fliegender Leichtigkeit wird man von einem richtigen Rennfahrer überholt, der dann wohlüberlegt, gezielt und gekonnt anfragt beim Überholen: "Beautiful countryside, isn’t it?" Und man als höfliche Antwort nur ein röhrendes Röcheln von sich geben kann. Nennt man psychologische Kriegsführung. Ich krieg mich heut noch nicht ab.
Die Hälfte der Strecke wird nach Mitternacht erreicht. Müdigkeit im ganzen Körper und dennoch der unbändige Wille, hier erst im Ziel vom Rad zu steigen. Die Außentemperatur fällt stetig, es wird bis 4 Grad Celsius kalt. Da bedanken sich die Lungen, die bei höchster Atemfrequenz jetzt Stunde um Stunde dieser Temperatur ausgesetzt werden. Hustenanfälle, die Stimme versagt, Schmerzen in der Brust. Ab und zu ein gemurmeltes "Sakradie". Bayerischer Trotz.
Dem Doc versagt langsam die Stimme, er kann sich nur noch mit Zeichen verständigen. Und das jetzt die nächsten 20 Stunden. Das war wohl das schlimmste. Doch von Zeitkontrolle zu Zeitkontrolle näherte er sich dem Führenden, einem bekannten Halbprofi. Der muss doch zu packen sein...
"Das Rennen beginnt erst am zweiten Tag" und "wer den Sonnenaufgang sieht, kommt durch". Zwei außerordentlich hilfreiche Sätze, die anlässlich der Vorbesprechung gefallen waren. Die Sonne geht auf, die Lebensgeister werden wacher und wärmer, das in der Nacht heiß genossene Coca Cola darf wieder kühler fließen. Regenschauer werden schon als unabänderlich und ohne weitere Gemütsregung hingenommen. Das Feld hat sich inzwischen weit auseinandergezogen, vom Gegner ist weder vorne noch hinten irgendetwas zu sehen. Einzig die Zeitstationen melden: Der erste ist nur 28 Minuten vor Dir. Kleine Ortschaften werden nur am Rande tangiert, die Strecke ist exzellent geplant und praktisch frei vom Autoverkehr. Das ist wohl nur in Texas möglich.
Nach 30 Stunden – oder waren es 34 Stunden? – hier streikt die mentale Registratur nun doch deutlich: Endlich der gefürchtete Höhepunkt der Fahrt: Der Palo Alto Canyon. Eine Kleinausgabe des Grand Canyon. Ein prachtvoller Anblick schon von Weitem mit rot-gelben senkrechten Felsabfällen, Türmen, Kathedralen-ähnlichen Gebilden und tiefen Schluchten. Da geht’s dann erst mal minutenlang steil hinab bis über 70 km/h und dann... Da jauchzt des Radlers Herze: Die nächsten vier Kilometer schlängelt sich die Straße in Serpentinen wieder nach oben mit Steigung um 12 Prozent. Und das nach jetzt über 30 Stunden. Ein klassischer Streit setzt ein zwischen dem Körper, der sich längst abgemeldet hat, und dem Geist, der versucht, noch Befehle zu geben. Immer wieder spannend.
Der Rest des Tages bis in die Abendstunden bringt neue Kräfte. Jeder der Athleten erhöht hier auffälligerweise seine Geschwindigkeit. Leider auch der spätere Sieger, der einen Zwei-Stunden-vorsprung vor den übrigen herausfährt. Als es dann Samstag Abend wieder dunkel wird, schließlich die Einfahrt in die kleine Stadt Canyon, Start-und Zielpunkt dieser Besichtigungstour von Nord-Texas. Unter Blaulichteskorte und - "hat etz des sein müssen"- Jubel bis über die Ziellinie. Ein ungeahntes Problem dann das Absteigen vom Fahrrad. Man geniert sich richtig.
Von den 13 Qualifikanten waren am Schluss noch 8 übrig geblieben. Der Sieger benötigte 36:15 Stunden, der zweite, unser Doc, 38:31, und noch ein Dritter konnte sich mit 39:48 für das RAAM im August des Jahres qualifizieren. Zwei Frauen kamen ebenfalls in die Wertung mit 47:42 und 49:58 h. Das muss man sich mal vorstellen: mehr als 48 Stunden praktisch ununterbrochen auf dem Rade. Interessant wäre da ja wohl der Colaverbrauch in Litern pro 100 km. Und der CO2 Ausstoß?
Bewertung: Bisher schlimmstes sportliches Ereignis meiner kurzen Laufbahn, aber: man gönnt sich ja sonst nichts! Weniger der Länge und der Anstrengung als vielmehr der Schmerzen wegen, die offenbar im Nacken, im Kreuz, am Gesäß und an den Füßen unausweichlich sind.
Wenn es hier überhaupt ein Geheimnis gibt, dann heißt dies Naivität und Gottvertrauen. Möchte ich Ihnen erklären: Um das Rennen selbst habe ich mir keinerlei Gedanken gemacht. Auch nicht im Traume daran gedacht. Hab es – wohl unterbewusst – einfach als Radfahren abgehakt. Mich aber intensiv wochenlang beschäftigt mit der Frage, wie ich direkt nach dem Wettkampf es schaffen sollte, die zwei Räder zu zerlegen, einzupacken und zum Flughafen zu schaffen. Denn der Abflug war nach 48 Stunden, am Sonntag 7 Uhr morgens. Die Praxis schließlich kann ich nicht wegzaubern: Montag früh um 7 werde ich erwartet.
Und mit der Befürchtung – self fulfilling prophecy – hatte ich auch völlig recht. Das war die wahre Tortur. Das begann schon bei der Unmöglichkeit, sich der Sportkleidung zu entledigen und in die Badewanne zu steigen. Ich hab einfach den Fuß nicht mehr hochgekriegt. Sie ahnen, dass mir das innerlich immer außerordentlichen Spaß macht. Wenn man sich selbst so von außen als hilflosen alten Deppen sieht. Und sich selbst Ratschläge gibt wie: "Wärst halt zuhause geblieben!"
Und so richtige Freude – nachdem ich für die Siegerehrung keine Zeit hatte – kam auf per Post: eine Urkunde für "best dressed sexy legs". Freut mich noch heute. Liegt natürlich daran, dass ich überhaupt nicht eitel bin. Neinneiiiiin.