BIEL

is a 100 km magical mystery tour. Anders. Ganz anders. Wenn Sie an Biel als einen Wettkampf denken...Pustekuchen. Biel ist nichts Einheitliches, Einförmiges. Biel ist nicht die eine – durchaus herbe – Blume, die Sie pflücken möchten. Biel entpuppt sich, ob Sie das nun wollen oder nicht, als oft unheimlicher Blumenstrauß. Der sich da in der Nacht, peu a peu, entfaltet. Und Sie begeistert und schon Sekunden später auch in tiefe Verzweiflung stürzt. Hilflosigkeit. Hier haben Sie keine Wahl. Die Blumen müssen Sie pflücken. Da mag die eine wohl duften, die andere Sie aber stachelig verletzen. Biel ist ein unendliches Kaleidoskop.

Fragen Sie einfach einmal einen Finischer. Die werden dann immer so seltsam...stumm. Genau so merkwürdig wie ein Kilimandscharo-Bezwinger. Interviewen Sie den mal. Kaum Antworten. Wortkarg. Heißt: Nicht mitteilbar.

Kaleidoskop also. Bunter Blumenstrauß. Na, dann pflücken wir doch einmal ein paar Blümchen:

Start in strömendem Regen. Nach drei, vier Kilometern Bahnunterführung. Steht unter Wasser. Sie also knöcheltief im Nassen. Quatsch, quatsch, quatsch geht's weiter. Wann kommt die erste Blase? Haben Sie Schuhe zum Wechseln in der Hosentasche? Nein, haben Sie nicht. Eine stachelige Blüte...

Gleich am Anfang, nach einigen Kilometern, wird ein Marktplatz umrundet. Ausgeleuchtet. Noch heute schwöre ich, der war mit einem hochflorigen Moosteppich ausgelegt. Jedenfalls bin ich nie in meinem Leben ein paar hundert Meter so weich, so elastisch, so hochgedämpft, so ... geschwebt wie auf diesem Viereck. Wahrscheinlich war es ein Teppich. Aber Biel, auch im Nachhinein, hat die merkwürdige Eigenschaft, dass Realität und Traum nicht mehr zu trennen sind. Wohl eher kein Teppich, sondern...Hochgefühl. Der Glaube, jetzt ja noch 90 Kilometer leicht dahinhüpfen zu können und hier am Anfang im kindlichen Überschwang zu, ja was denn nun, zu fliegen. Unvergesslich.

Eine Holzbrücke. Schnitzarbeit. Ein Kunstwerk. Überdacht. Berühmt. Ein Nadelöhr. In der tiefen Nacht, traulich ausgeleuchtet. Menschenmassen davor und danach. Und man taucht ein und weiß: Diesen Ort gibt es nur einmal auf der Welt. Hier in Biel. Generationen haben dieses Kunstwerk gewirkt und man darf es...queren.

Dahinter hügelige Straßen, Anstiege in den Wald. Und plötzlich und das dann für den gesamten Lauf, grauslige Muskelschmerzen. Ober- und Unterschenkel. Noch nie gehabt. Jeder Schritt wird zur Qual. Kein Mensch kann das durchhalten...Die Quittung für offenbar beleidigte Muskelzellen bei zu viel Wettkämpfen/Training kurz davor. Jede Erfahrung macht man eben einmal zum ersten mal.

Dann Durchfall. Ein altbekannter Fehler: Aus Angst vor Energieverlust vor dem Wettkampf zu viel Astronautenkost mit zu wenig Flüssigkeit. Hoher osmotischer Druck im Darm, Ansaugen von Flüssigkeit und...genau. In die Büsche. Dort Brille verloren und jetzt? Nachtschwärze. Kein Licht. Krauchen auf allen Vieren. Die spöttischen Kommentare der Lauffreunde. Wie wach die noch sind, wie klug die noch beobachten können, wie pfeilspitz die noch kommentieren können...Noch heute bin ich voll Bewunderung: "Der Strunz, schon jetzt auf allen Vieren...."

Nach Mitternacht. Ein kleines Dorf. Im Zentrum das Gasthaus, davor ein paar Tische und Stühle: Nächtliche Zuschauer. Stumm. Kein lautes (deutsches) hopp, hopp... Gegenüber der Dorfbrunnen: Ein ausgehöhlter Stamm, ein dünnes Rinnsal. Immer wieder der eine oder andere Läufer, der sich tief bückt. Kopf ins Wasser, zwei Schluck und...weiter. In die Dunkelheit.

Irgendwo biegen sich höchste Baumwipfel zueinander, lassen eine schmale Teerstraße passieren. Absolute Schwärze. Erlebt man nur noch selten heute. Man ist ja immer irgendein fernes Licht, einen Autoscheinwerfer, ein paar Sterne gewohnt. Hier: Nichts dergleichen. Nada. Auf einmal...hört man. Man hört wie eine Fledermaus. Das eigene Echo, das Patschen der Schritte reflektiert an den Baumstämmen rechts und links und...man orientiert sich. Völlig automatisch. Eine der wenigen Momente in meinem Leben, wo ich...wach wurde. Erlebte, erfuhr, dass der Mensch so sehr viel mehr kann. Er kann in völliger Schwärze durch einen Wald rennen ohne anzustoßen. Doch, kann er. Ich hab's erlebt.

Natürlich der Ho tschi minh-Pfad. So 10 Kilometer Wurzelstrecke durchs Gelände. Engstehender Wald. Völlige Dunkelheit. Ohne Lampe nicht zu bewältigen. Was passiert beim ersten Mal? Batterie leer. Natürlich. Beim zweiten Mal hat man dann zwei Taschenlampen in den Taschen. Der Mensch ist lernfähig. Natürlich bildet man schnell Gruppen. Hinter der hellsten Taschenlampe. Und hatscht hinterher.

Heiratsantrag im Laufen? Doch, kurz vor dem Ende dieser schwarzen Strecke. Läuft neben mir, von hinten kommend, ein schwarzer Engel. Kurze Laufhose, schwarz, T-Shirt, knapp, schwarz, vielleicht 30 Jahre und schwebt. Lautlos auf Waldboden fliegt's, luftleicht ohne Flügel neben mir. Minutenlanger Genuss. Ich wollte - aber was hätte ich sagen können? Es wäre mir nur der Heiratsantrag geblieben. Hab später nach dem Namen gesucht. Sie musste ja eine der ersten drei Damen gewesen sein...

Und nach der dunklen Strecke die langen Straßen. Ständig leicht ansteigend. Auf Kilometern zu überblicken. Vorne ein Punkt. Dunkel. Beim Näher-kommen bleibt er dunkel. Ein Schwarzer, vielleicht GI, denen ja – wie Sie wissen - aus ästhetischen Gründen mein Herz gehört. Die bewegen sich, die laufen anders. Dagegen sind wir Europäer Holzkasper. Der aber hatte hier jegliche Eleganz verloren. Der quälte sich und ich hab ihn...hinter mir gelassen. Wird mir wohl nie mehr gelingen im Sport.

Die Versuchung, so etwa bei 80 Kilometern. Man dürfte aussteigen. An einer Verpflegungsstation. Die Versuchung ist übermächtig, weil...die Straße ansteigt. Und weiter steigen wird. Hier trennt sich der Vernünftige – der bleibt stehen – vom Neurotiker.

Und kurz darauf DER SCHMERZ. Ein Gefälle hinab in den Ort. Was ich nicht wusste: Muskelzellen, die übermüdet, die geschwollen, die entzündet sind nach 80 Kilometern halten die Stoßbelastung, die Bremslast beim Bergab- laufen nicht mehr aus. Will sagen: Die schon, aber Sie nicht. Unbeschreiblich.

Gleich darauf Rudelbildung, größere Läuferansammlung auf der Straße. Ein Auto versucht von hinten sich langsam einen Weg zu bahnen. Da rastet einer aus: Schreit, schimpft, springt auf Motorhaube, trommelt auf das Blech, springt ab, läuft bewusst vor das Auto, versucht es zurück zu schieben...irre. Da lacht der Arzt in mir: Amphetaminrausch. Speed. Ecstasy. Einer der Vielen, der den Kampf nicht annimmt, sondern ihn auf eine andere, die pharmazeutische Ebene verlegen möchte. Ist ja Mode geworden. Nichts Besonderes.

Magische Momente. So bei 90 Kilometer durch ein Kieferwäldchen, offen, ein Feldweg, ein älterer Landwirt auf einfachem Fahrrad, neben mir her. Plötzlich aufgetaucht, dann wieder verschwunden und in diesen kurzen Sekunden der anrührende Satz: "Geht's noch, Bub?" Der Bub war wahrscheinlich älter. Das brennt sich ein für das ganze Leben. Der Mensch ist grundsätzlich gut...

Und dann die immer gleiche Erfahrung: Auf dem letzten Kilometer verliert man die Koordination. Wenn Sie jetzt den Arm ein bisschen anders schwingen, das Bein ein bisschen höher ziehen, fallen Sie um. Wenn Sie jetzt versuchen, die Jacke zu richten, aufzumachen oder zu schließen, taumeln Sie. Dies wissend übe ich. Regelmäßig. Ob auf Hawaii oder in Biel: Fünf mal muss ich es schaffen, beide Arme nach oben zu strecken ohne umzufallen, vorher. Noch auf der Strecke. Dann bin ich mir sicher, dass diese – für's Foto so wichtige – Geste auch auf der Ziellinie gelingt. Aber erst dann. Muss seltsam aussehen: Der Hampelmann da 200 Meter vor dem Ziel. Wie er Freiübungen macht...Ach Kinder!

Der Glanzpunkt? Eine Postkarte 6 Monate später. Kriegt jeder Teilnehmer. Die Einladung für nächstes Jahr. Auf dieser Postkarte wurde mir für den nächsten Lauf die Startgruppe zugeteilt. Also gut: Die Masse der 2700 Starter bevölkert die Straße. Davor, abgesperrt, eine kleine Gruppe, genannt Elite II. Vor denen wiederum, ebenfalls eingezäunt, ein paar Profis. Nennen sich Elite I. Und wissen Sie was: Laut Postkärtchen aus Biel hätte ich gefälligst – militärisch strammes Kommando - im nächsten Jahr mich unter Elite I einzureihen. Unter den Profis.

Manchmal bin ich schon ein bisschen stolz auf mich. Verstehen Sie.